„Was hält unsere Gesellschaft zukünftig zusammen?"

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Frau Prof. Dr. Nicole Deitelhoff
Institut für Politikwissenschaft, Goethe-Universität Frankfurt a.M.

„Was hält unsere Gesellschaft zukünftig zusammen?"

am Dienstag, den 11. Mai 2021 als Zoom-Videokonferenz.

Demonstrationen gegen Corona-Regelungen, Rassismus und Proteste gegen Ge¬flüchtete, Angriffe auf Politikerinnen und Politiker und nicht zuletzt Hasskommentare und Drohungen im Internet – wir fragen uns heute mehr denn je: Was hält unsere Gesellschaft noch zusammen? Ist unsere Demokratie nicht in höchstem Maße bedroht durch Streit und ständige Konflikte?

Nein, sagt die Politikwissenschaftlerin Prof. Dr. Nicole Deitelhoff. Für sie hat Streit eine zentrale Funktion, um die Demokratie zu erhalten.

Grade in der Auseinandersetzung über Dinge, die wir anders wahrnehmen und sehen, im Ausbuchstabieren politischer Werte und Prinzipien, werde das demokratische Gemeinwesen geformt.

Wenn wir miteinander streiten, dann knüpften wir auch gleichzeitig ein soziales Band. Und wir streiten doch nur mit jenen, denen wir Respekt und auch Anerkennung zollen, die es wert sind, sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Sie sind uns eben nicht egal, so die Politologin.

Erst die kritische Auseinandersetzung mit bestehenden Normen gebe den Bürgerinnen und Bürgern das Gefühl, Teil des Ganzen zu sein.

Bestes Beispiel die Impfplicht! Wenn über das Für- und Wider der Impfplicht gestritten wird, dann berührt das unser gesamtes politisch-soziale Zusammenleben. Die Impfpflicht ziele zum einen auf die öffentliche Sicherheit und Verantwortung des Staates hin. Anderseits aber auch auf die Frage der Selbstbestimmung des Einzelnen. Diese Fragen müssten hart und ohne vorgefertigte Meinung diskutiert werden.

Die Antworten und Lösungswege, so Nicole Deitelhoff, würden ja erst entdeckt in der Auseinandersetzung!
Wir lernen also aus Konflikten! Wir „vermessen" in der Diskussion. Im Streit komme der normative Kern von Demokratie selbst zum Vorschein

Es sei das „NEIN" sagen können, und nicht die ständige Zustimmung, die Demokratie begründet. In dieser niemals aufhörenden Auseinandersetzung darüber, ob wir in einem demokratischen Gemeinwesen leben wollen und was das konkret für das im HIER und JETZT bedeutet, daraus erwachse eine Freiheit, die unbändig sei.

Die Politikwissenschaftlerin verschweigt nicht, dass es auch die andere Seite des Streits gibt, die zerstörerischen Auseinandersetzungen, die als Risiko empfunden wird und Verunsicherung und Ängste weckt. Gerade jetzt in der Coronakrise zweifelten Millionen an den Normen und Regeln und fühlen sich im Streit als Verlierer.

Ein Grund dafür sei, dass sich Politik dem gesellschaftlichen Streit stark entziehe. Politik wird oft zur Verwaltungsangelegenheit, zur Sache von wissenschaftlichen Experten erklärt und damit entpolitisiert. Wenn Experten die politischen Konflikte entscheiden, ist die Demokratie gefährdet!

Manchmal gaukele die Politik durch die Einrichtung von runden Tischen oder Mediationsverfahren Bürgerbeteiligung vor, dabei seien die Entscheidungen längst gefällt aufgrund von wirtschaftlichen Verhältnissen oder scheinbaren Zwängen. Bestes Beispiel der Flughafenausbau.

Gerade jetzt erlebten wir Situationen, die die Streitkultur erlahmen lassen. Das ist auf der einen Seite die Verrohung in unserer Gesellschaft, auf der anderen Seite aber auch das Phänomen, dass unterschiedliche soziale Gruppen nicht mehr ernsthaft miteinander redeten.

Zwei Jahrzehnte Krisenerfahrungen liegen hinter den westlichen Gesellschaften: Klimakrise, Weltwirtschaftskrise, Weltverschuldungskrise, Migrationskrise und nun Coronakrise. „Diese Krisen lassen Bürgerinnen und Bürger zweifeln, ob Politik tatsächlich in der Lage ist, diese existentiellen Probleme zu lösen", so die Wissenschaftlerin. Immer mehr Menschen machten sich Sorgen, ob die Politik noch imstande sei, dies alles anzugehen. Sie wendeten sich ab, wechselnden in den Kampfmodus, z.B. in Hasskommentaren und Protestveranstaltungen. Wenn Oppositionelle die Grenzen zur Gewalt überschritten, wenn sie systematisch die Menschenwürde anderer verletzten, endete der Streit automatisch.

Was können wir dem entgegensetzen? Wie können wir zukünftig dazu kommen, Streit in einer positiven Form wieder zu fördern?

Wir müssen auch mit jenen diskutieren und reden, die nicht unsere Normen und Einstellungen teilen, die schon an der Grenze zum Kampfmodus operierten. Denn um die steht oft die schweigende verunsicherte Mehrheit, wie bei den Querdenken-Demonstrationen, so der Rat der Politologin.

Politik müsse wieder ernsthaft diskutieren. Parlamentsdebatten müssten sachlicher und spannender werden. Streit brauche Sicherheit. Wir brauchten trotz aller Meinungsverschiedenheiten ein Bekenntnis zur Solidargemeinschaft, ein „WIR SCHAFFEN DAS".

Zur Person: Frau Prof. Dr. Nicole Deitelhoff ist seit 2009 Professorin für Politikwissenschaft an der Goethe-Universität Frankfurt. Sie ist Sprecherin des vom BMBF geförderten For-schungsinstituts Gesellschaftlicher Zusammenhalt und Geschäftsführende Direktorin des Leibniz-Instituts Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK) sowie designierte Direktorin des Forschungsverbundes „Normative Ordnungen" der Goethe-Universität Frankfurt. Sie forscht zur Umstrittenheit und zu Krisen von Institutionen und Normen, Grundlagen politischer Herrschaft und ihrer Legitimation, Formen von Opposition und Dissidenz sowie zu Demokratie und Zusammenhalt.